2 Kommunikative Praxis in der Schule und praktische Rhetorik

2.8 Das pädagogische Konzept der TZI
von RUTH COHN










Die Psychologin und Psychoanalytikerin Ruth C. Cohn, 1912 geboren, entwickelte im amerikanischen Exil das Konzept der Themenzentrierten Interaktion, im folgenden TZI.

Die TZI soll zu einem aktiven, schöpferischen und entdeckenden Lernen, zu einem lebendigem Lernen und Arbeiten verhelfen. Die Berücksichtigung des Menschen steht bei der TZI-Methode im Vordergrund.
Sie strebt ein dynamisches Gleichgewicht an zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Personen, der Gruppe, deren Aufgabe und dem Umfeld. Damit berücksichtigt die TZI wichtige Aspekte des Nachrichtenquadrats: die Sach-, Beziehungs-, Appell- und Selbstoffenbarungsebene.

Einsatz findet die TZI heute in allen Arbeits- und Lebensbereichen, insbesondere in der Erwachsenenbildung, neuerdings auch in der Schule.

Eine Reihe von Handlungsgrundsätzen der Kommunikation sind im TZI-Strukturmodell Ruth Cohns festgehalten:

das Ich-Postulat:

Sei dein eigener Chairman! (deine eigene Leitperson)
Es gibt Dinge, die ich ändern kann, also tue ich´s. Es gibt Dinge, die ich nicht ändern kann, also lasse ich´s.
"Wenn die Realität der Einzelnen, der Gruppen und Institutionen - gut oder böse - akzeptiert wird, wird der Weg zur Veränderung frei."
(Ruth C. Cohn)

das Wir-Postulat:

Die Menschen in der Gruppe haben ein gemeinsames Anliegen; dabei gilt: Störungen und Betroffenheit haben Vorrang, werden ernst genommen .
"Wer an Lösungen interessiert ist, muss lernen, sich in die Tiefe zu begeben, ein Problem auszuloten. Das heißt häufig, nicht oberflächlich sein, sich non-konform verhalten, unbequem sein." (Ruth C. Cohn)

das Es-Postulat: Das Thema ist wie ein runder, zu erkundender Raum. Es hat viele Eingangstüren. Jeder muss seinen eigenen Zugang suchen.
das Globe-Postulat: Das Umfeld der Gruppe ist eine reale Gegebenheit und muss bei der Arbeit berücksichtigt werden. Jeder Faktor beeinflußt jeden.
"Das System beeinflußt die beteiligten Menschen und die Menschen beeinflussen das System. So kann jeder Gruppenteilnehmer Einfluß nehmen auf das System." (Ruth Cohn)

 

 

Eine TZI-erfahrende Lehramtsanwärterin baute diese Wunschstatue in einem Szenischen Spielseminar: Es stellt eine Klassengemeinschaft dar, in der die Lehrerin Teil des Ganzen ist und in der alle zusammenarbeiten.




In dem Aufsatz von Dr. Christine Wolbrandt wird das Menschenbild der TZI wie folgt ausgeführt:

Das Gruppengespräch als Reifungsweg
Erfahrungen mit der themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn

  • Jeder Mensch hat einen einmaligen Platz in der Welt.
    Er ist ein autonomes Wesen, nimmt diese Autonomie aber nur unvollständig wahr.
    Werden die Menschen dazu fähiger, empfinden viele das als Gesundung.

  • Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, das in seiner Leiblichkeit im Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit ist.

  • Der Mensch ist ein Wesen, das in ununterbrochener Beziehung zu anderen steht,
    auch wenn er sich zeitweilig zurückgezogen hat.

  • Der Mensch ist ein verantwortliches Wesen, das auch zu verzichten bereit ist, sofern seine Bedürfnisse von den anderen wahrgenommen und anerkannt werden.

  • Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen. Er lebt in der Spannung von Vergangenheit und Zukunft und hat sich in der Gegenwart zu bewähren.

  • Der Mensch fühlt sich gesund, wenn er zwischen diesen verschiedensten Polaritäten die Balance immer neu herstellen kann.



TZI in der Schule

Die folgenden Vorschläge für einen TZI-orientierten Unterricht stammen aus einem Aufsatz von Christina Terfurth, Lehrerin an der Ecole d´Humanite, Jesuiten- und Staatsschule Hasliberg Goldern, Schweiz.

Terfurth führt folgende Faktoren an, die eine TZI-Orientierung im Schulunterricht ausmachen:

  • Schüler/innen sollen sich wirklich mit Themen auseinandersetzen und lernen Verantwortung für sich und für die anderen zu übernehmen.
  • Beide Seiten, Lehrer/in und Schüler/innen sollen sich wohlfühlen, so dass eine offene, flexible, wachsame und lebendige Athmosphäre im Klassenraum entstehen kann.
  • Sinn und Sinne sollen angesprochen werden, die Gestaltung des Klassenzimmers soll eine Welt im kleinen (Globe-Idee) sein, eine Grundlage für ein konstruktives Miteinander, das sich außerhalb der Schule fortsetzen kann.
  • Die Lehrer/in sollte wach sein für die Vorbehalte und Vorlieben von Schüler/innen und sie in die Planung des gemeinsamen Lehrens und Lernens mit einzubeziehen
  • Die Schüler/innen sollen sich gegenseitig wahrnehmen, mit- und voneinander lernen, in ihrer Verschiedenheit akzeptiert werden und Solidarität spüren.

Mit den folgenden Unterrichtsbeispielen aus dem Deutschunterricht mit ausländischen Jugendlichen will Frau Terfurth dazu anregen, den Unterricht nach den Grundprinzipien der TZI zu gestalten, ohne ein starres Raster damit vorgeben zu wollen, da dies nicht in den Plan des lebendigen Lernens passt:

1. Adjektive in Interaktion

Die Lehrerin fordert alle Schüler/innen auf, ein eigenes Kinderfoto mit in die Schule zu bringen. Am Anfang der Stunde sammelt die Lehrerin die Fotos ein, ohne dass die Fotos bereits herumgezeigt werden konnten.
Nun werden die Fotos vermischt an jeden einzelnen verteilt, möglichst so, dass jeder/jede ein Foto hat, das nicht ihn oder sie im Kinderalter zeigt.
Die Schüler/innen sollen sich nun gegenseitig detailliert die Fotos beschreiben, je mehr Adjektive für die Beschreibung benutzt werden, desto interessierter sind die Mitschüler/innen. Durch diese interessierten Reaktionen sind alle angespornt, die Fotos und Originale genau zu betrachten und zu beschreiben, um herauszufinden, welche Person in der Klasse auf dem Foto abgebildet ist.
So lernt sich die Klasse besser kennen, alle kommen sich näher, das Anwenden von Adjektiven und die deutsche Sprache werden geübt, und eine lebendige Interaktion entsteht.


2. Wortschatzerweiterung und Zusammengehörigkeitsgefühl

Viele der Schüler/innen von Frau Terfurth leben in einer Großfamilie, so dass Familienbindungen besondere Wichtigkeit für sie haben, die Familie ist Orientierungshilfe, Stütze und Sicherheit. Auch kommen viele aus Einwandererfamilien und müssen so auf verschiedensten Formularen ihre Verwandtschaftsbeziehungen, ihre Herkunfts- und Gegenwartsverhältnisse darlegen.
Das ist der Hintergrund auf dem die Lehrerin ihre Schüler/innen in der Stunde fiktiv miteinander verheiratet und verschwägert: Sie zeichnet einen großen Stammbaum an die Tafel und beginnt: "Coscum heiratet Rahma". Die Schüler/innen reagieren mit gespielter Entrüstung und Spannung, wer denn nun das Kind der beiden werde, sie entscheiden bei der "Familienplanung" mit, alle arbeiten übermütig miteinander. Selbst am nächsten Tag beobachtet Frau Terfurth noch, dass einige in ihren fiktiven Wahlverwandtschaften weiter miteinander interagieren: ein Schüler kommt zu ihr, zeigt auf einen anderen Schüler in der Klasse und sagt entrüstet: "Mein Vater gibt mir kein Geld für ein Brötchen am Kiosk Frau Terfurth!".
Diese Stundengestaltung hat sowohl den Wortschatz hinsichtlich der Verwandtschaftsbeziehungen erweitert als auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Klasse bestärkt.


3. Imperativ und Selbstbestimmung

Wie im Ernst befiehlt die Lehrerin zu Anfang der Stunde: "Sibel, schließe das Fenster!", "Hayat zähle einmal bis 60.", "Sali, stehe auf!", "Joanna gieße bitte die Blumen!", "Loan, mach´mal bitte drei Kniebeugen!", Fahri, geh zu Adem und wünsche ihm einen guten Morgen!","Fouwzia, putze bitte die Tafel...!

Die Schüler/innen befolgen die Aufträge und als Mohamed als zehnter einen Befehl von der Lehrerin erhält, äußert er seine Entdeckung: "Sie sagen - wir machen!" An dieser Stelle bricht die Lehrerin die Hinführung zum Thema ab und alle überlegen, was in den letzten Minuten passiert ist.
Sie notiert die Befehle an die Tafel, die von den Schüler/innen wiederholt werden und alle erkennen, dass es eine wiederkehrende grammatische Form darin gibt. Daran anknüpfend werden die grundsätzlichen Merkmale des Imperativ zusammen herausgearbeitet. Die Klasse spricht danach darüber, ob Befehle sinnvoll sind und wenn ja, welche.
Dabei stellt eine Schülerin fest: "Ich habe einfach gemacht, was sie sagen. Sie sind die Lehrerin! Sie wissen, was richtig ist. Aber ihr Befehl war blöd."
Während des weiteren Gesprächs wird den Schüler/innen klar, dass sie lernen müssen zu unterscheiden, welcher Befehl Sinn macht und welcher besser unerledigt bleibt. Damit, so Frau Terfurth, unterstützt das Selbstbewusstsein und die Eigenständigkeit der einzelnen Schüler/innen. Diese sollen nicht nur "passive BefehlsempfängerInnen" (S.24) bleiben, sondern ihre Bedenken gegenüber manchen Befehlen sprachlich reflektieren können.
Als letzten Schritt der Unterrichtseinheit sollen sich alle selbst sinnvolle Befehle ausdenken, die sie an bestimmte Personen richten wollen. Dabei sollen sie sich in beide Perspektiven hineindenken, in die agierende und reagierende.
Dieser geübte Umgang mit Sprache hilft, so Frau Terfurth, bei der Integration in einer fremden Welt, und nicht nur auf das Wohlwollen der anderen angewiesen zu sein, sondern auch die eigenen Anliegen "selbst in die Hand und den Mund" nehmen zu können.


4.Störungen ins Stundenthema integrieren und Schüler/innen ernstnehmen

Frau Terfurth wurde am frühen Morgen von der Polizei aus dem Bett geklingelt, da ein Betrunkener in ihr Auto gefahren war. So wurden ihre Personalien aufgenommen, sie musste vor der Schule viel erledigen, unter anderem sich noch um eine Mitfahrgelegenheit zur Schule zu kümmern.
Als sie im Klassenzimmer ankam, war sie innerlich völlig abgehetzt. Sie entschied sich, ihr augenblicklichen Gefühle ins Stundenthema "Grenzsituationen", Religionsunterricht, neunte Klasse, mit einzubeziehen und berichtete den Schüler/innen von den Erlebnissen am Morgen.
Diese reagierten mit Neugierde und Verständnis auf ihr Erzählen und nahmen den Vorschlag von Frau Terfurth an, eine Stillarbeit zur Fragestellung "Wie gehe ich mit meinen Grenzen um?" zu machen. Methodisch angeregt wurde die individuelle Beschäftigung durch viele verschiedene ausgeschnittene Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften, die Grenzerfahrungen darstellten: ein nacktes Kind auf der Strasse, eine geknickte Blume, ein weinender Mann, die in der Klasse verteilt wurden. Die Schüler/innen suchten sich eines oder mehrere Abbildungen als Ausdruck eigener Verhaltensweisen aus und hatten wie die Lehrerin Zeit, sich in Stille mit diesen Situationen auseinanderzusetzen.
Zwei Dinge geschahen während der Stunde: die Schüler/innen erlebten die Lehrerin als eine Person, die das Stundenthema mit eigenen Erfahrungen glaubhaft macht und erlebten sich gleichzeitig selbst als ernstgenommene Gesprächspartner/innen, fühlten sich in ihrer Verantwortlichkeit angesprochen. Die Lehrerin konnte so nach dem Schreck des Morgens zu sich kommen und wieder unbeschwerter am Unterrichtsgeschehen teil-nehmen. Die Störung wurde zum Teil des Themas, auch die Schüler/innen sollten lernen, Störungen in ihrem alltäglichen Leben zu thematisieren.

 

 

 

"Gute Theorien
sind gut geerdete Schienen, auf denen die Praxis weitergleitet.
Je weiter die Landschaft und je größer das Schienennetz, um so wichtiger sind Grundkenntnisse der Umgebung, Präzision der Technik und Sorgfalt für die Weichenstellung."

Ruth C. Cohn

 

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Literatur